Und was kommt jetzt?

Vom Loslassen und Anfangen am Ende des Berufslebens

Claudia Kocabiyik, bis November 2019 Leiterin des Evangelischen Bildungswerks Essen, über das, was kommt, was geht und was bleibt am Ende ihres Berufslebens. Und was für sie Anfängergeist bedeutet.

Das Gespräch führte Birgit-Sara Fabianek.

Ihr Abschied als Leiterin des Evangelischen Bildungswerks Essen fällt fast zusammen mit dem Aus für diese Einrichtung am Ende des Jahres 2019. Wie fühlt sich das an, wenn man weiß: Nach mir gehen die Lichter aus?

CLAUDIA KOCABIYIK: Ich halte die Schließung des Evangelischen Bildungswerks für eine falsche Entscheidung. Aber ich versuche, diese kirchenpolitische Entscheidung von meinem persönlichen Abschied zu trennen, auch wenn die Reaktionen der Betroffenen natürlich bei mir ankommen. Eine Teilnehmerin sagte mir, das Bildungswerk sei für sie immer ein letzter Anker gewesen, der sie mit der Kirche verbindet. Diese Verbindung fällt jetzt weg. Eine Referentin schrieb, dass sie mit ihrem Kurs jetzt beim Katholischen Bildungswerk „Asyl“ gefunden habe. Das ruft bei mir Bilder von Flucht und Vertreibung wach. Sechshundert Adressen von Interessenten werden gelöscht, die bisher immer unser Programm erhalten haben und künftig nicht mehr angesprochen werden. Das kann ich nicht nachvollziehen.

Sie haben in den 19 Jahren, die Sie für das Bildungswerk gearbeitet haben, viel Neues auf den Weg gebracht. Was war Ihnen wichtig?

Projekte waren mir immer wichtig. Erst kürzlich haben wir mit einer großen Lesung im Haus der Kirche eines abgeschlossen, ein Buch mit dem Titel: „Ohne Fassade. Frauen im Gespräch“. Für diese Schreib- und Erzählwerkstatt haben sich Frauen aus unterschiedlichen Ländern und mit unterschiedlicher Herkunft zusammengefunden, um einander wichtige, schöne oder herausfordernde Episoden aus ihrem Leben zu erzählen und sie gegenseitig aufzuschreiben. Dieses Projekt ermöglichte intensive Kontakte zwischen Frauen, die sich im Alltag niemals begegnet wären. Das liegt mir am Herzen.

Wie kommen Projekte wie dieses in die Welt?

Indem man miteinander ins Gespräch kommt, gemeinsam neue Ideen ausbrütet und umsetzt. Dazu braucht es viele Kontakte und den Willen zu kooperieren. So war es auch bei unserem Projekt zum Reformationsjahr. Wir saßen zusammen und überlegten: „Wie wäre es, wenn wir die Leute nach ihrer Lieblingsstelle in der Bibel fragen und was sie damit verbinden – und das ökumenisch aufziehen?“ Mit den gesammelten Antworten haben wir eine Lesung in der Marktkirche veranstaltet: Das kam gut an, die Kirche war voll.

Hatten Sie auch einmal Hemmungen etwas Neues anzugehen?

Ich habe bei neuen Projekten immer die Befürchtung, dass nicht genügend Leute kommen. Dass sich nur Wenige dafür interessieren könnten, was wir in die Welt gebracht haben. Diese Sorge überfällt mich jedes Mal, obwohl es noch nie passiert ist.

Wann haben Sie angefangen, sich Gedanken über Ihren Ruhestand zu machen?

Vor einem Jahr. Das Thema tauchte auf, als ich eine Coaching-Ausbildung gemacht habe. Dabei habe ich nicht nur gelernt, für andere zu schauen, wo es hingehen soll, sondern auch bei mir selbst, im Sinne von Selbstcoaching.

Wie macht man das, sich nach dem Berufsausstieg ein neues Lebensziel suchen?

Neues Lebensziel, hm. Ich fange jetzt nicht damit an, mich neu zu erfinden. Mein Lebensziel hat bisher damit zu tun, etwas Sinnvolles zu tun. Das wird auch für meinen Ruhestand gelten. Es wird aber angenehmer sein, weil es nicht mehr mit der Belastung einer 40-Stunden-Woche verbunden ist.

Womit fangen Sie an?

Es wird nicht so sein, dass ich im Bildungswerk aufhöre und am nächsten Tag suche ich mir schon was Neues. Das wird nicht funktionieren. Ich habe mir vorgenommen, im kommenden Frühjahr zu schauen, wo ich mich engagieren möchte.

Haben Sie schon Ideen?

Es wird mich finden, denke ich. Ich bin offen und möchte im Moment noch gar nicht wissen, in welche Richtung es geht.

Werden Sie an Türen klopfen oder warten bis jemand bei Ihnen klingelt?

Ich werde anklopfen. Bei der „Alten Dreherei“ in Mülheim zum Beispiel, einem historischen Bauwerk, das gerade zu einem Haus der Vereine umgebaut wird. Vielleicht klopfe ich auch beim Sozialverband VdK an, beim Netzwerk meiner Kirchengemeinde und beim Verein „Eltern werden, Eltern sein“. Und ich bin gespannt, welche Türen sich für mich öffnen.

Anfängergeist – was ist das für Sie?

Anfängergeist bedeutet für mich, Neues zu beginnen ohne gleich die Hindernisse vor Augen zu haben, dazu stehen zu dürfen, Fehler zu machen und die Lust, sich auf Neues einzulassen.

Ist Neugier dafür wichtig?

Ach, ich weiß nicht, ob ich überhaupt neugierig bin. Die Lust auf Veränderung hat für mich weniger mit Neugier als mit Lebendigkeit zu tun. Dem Leben nachzuspüren und die Lust, es in möglichst vielen Facetten kennenzulernen und zu erleben – das treibt mich an.

Keine Angst vor dem Neuen?

Wovor sollte ich Angst haben? Solange ich körperlich dazu in der Lage bin, mich auf das Leben einzulassen, habe ich Vertrauen, dass es mich trägt. Außerdem ist mir immer wichtig gewesen Neues zu lernen. Vor zwei Jahren habe ich meine Coaching-Ausbildung abgeschlossen, vor eineinhalb Jahren habe ich damit begonnen, Italienisch zu lernen ‒ Lernen ist Lust und nicht Last für mich. Darauf setze ich.

Früher kam nach dem Beruf häufig der Lebensabend, heute ist die Zeit nach dem Ende des Berufslebens oft eine Zeit des Aufbruchs. Sehen Sie sich als Pionierin?

Eigentlich nicht. Ich kann nicht absehen, wie sich das Engagement fürs Ehrenamt entwickelt hat – mag sein, dass frühere Generationen darin etwas zurückhaltender waren. Aber ich habe mich schon in meiner Jugend engagiert, daran knüpfe ich wieder an.

Würden Sie gern noch länger im Beruf bleiben?

Nein, jetzt ist es gut. Ich lasse gerne los.

 

„Neues zu lernen
ist Lust, nicht Last
für mich.“

CLAUDIA KOCABIYIK ist diplomierte Sozialwissenschaftlerin und leitete bis Mitte November 2019 das Evangelische Bildungswerk Essen. Die Marktkirche ist für sie eine Trutzburg in mitten des Geschäftsgewühls der Essener Innenstadt: „Diese Kirche steht mitten im Leben, das bedeutet aber auch, dass man hier den Lärm von draußen mitbekommt.“ Trotzdem bleibt der Alltag draußen, sobald man die Tür schließt. Dazu trägt die besondere Atmosphäre des neuen Westchors aus blauem Glas bei, der alles in ein blaues, meditatives Licht taucht. Foto: Robert Poorten

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